Lichtenberg-Professor Marc Spehr publiziert im Fachmagazin Cell

16.04.2014

„Meins oder Deins“ - über den Urin ausgeschiedene Proteine lösen bei Mäusen komplexe Verhaltensweisen aus

 

In einem internationalen Kooperationsprojekt hat der Aachener Lichtenberg-Professor Marc Spehr (Lehrstuhl für Chemosensorik, Institut für Biologie II) zusammen mit Arbeitsgruppen aus La Jolla, San Francisco und Cambridge eine herausragende Arbeit zur Steuerung von komplexen Verhaltensweisen bei Mäusen im renommierten Fachmagazin Cell publiziert.

Im Tierreich wird Sozialverhalten über eine Vielzahl von Signalen gesteuert. Dazu gehören die sogenannten „Major urinary proteins“ (MUPs), eine Klasse von Proteinen, die von Mäusen über den Urin ausgeschieden werden. Artgenossen nehmen diese Pheromone und andere Duftstoffe mit einem speziellen Geruchsorgan – dem Vomeronasalen Organ – wahr. In vielen Säugetierarten spielt das Vomeronasale Organ daher die wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung von sozialen Signalen.

Für die „richtige“ Interpretation von Pheromonen ist die Unterscheidung zwischen den eigenen und fremden Signalen entscheidend: die eigene „Duftmarke“ darf natürlich nicht Aggression hervorrufen oder hierarchische Gruppenstrukturen verändern. Hier entsteht für das sensorische Nervensystem ein Dilemma - wie kann es gelingen, mit einer begrenzten Zahl von Pheromonsubstanzen sowohl stereotype Verhaltensweisen wie Aggression oder Paarungsbereitschaft zu steuern, als auch gleichzeitig Eigen- und Fremderkennung zu ermöglichen? Ein wichtiger Schritt zur Lösung dieses Rätsels ist den Aachener Forschern nun gelungen.

Das Mäusegenom kodiert 21 unterschiedliche MUPs, von denen individuell aber nur 4-12 verschiedene Proteine tatsächlich produziert werden. Dadurch wird von jedem Individuum ein unterschiedlicher „Cocktail“ von MUPs mit dem Urin abgegeben - eine Art persönlicher „Fingerabdruck“. Dominante männliche Mäuse können so beispielsweise über den ausgeschiedenen Urin ihr Revier markieren sowie weiblichen Artgenossen oder männlichen Konkurrenten ihre Anwesenheit signalisieren. Eine zentrale Frage ist, wie eigene von fremden Markierungen unterschieden werden und welche Nervenzellen im Geruchssystem für das Erkennen dieser Signale verantwortlich sind?

Bekannt war, dass männliche Mäuse ein Verhalten zeigen, das man „ countermarking “ nennt: Erkennt ein dominantes Tier im Verhaltenstest die Urinspur eines fremden Männchens, so wird es sofort beginnen, sein Revier ausgiebig mit eigenem Urin zu markieren. Nun fanden die Neurowissenschaftler heraus, nicht nur Urin, auch isolierte MUPs lösen countermarking aus. Wurden den Tieren Duftmarken aus eigenem Urin oder dem eigenen MUP-Cocktail präsentiert, blieb jegliche Verhaltensreaktion aus. Wie also entschlüsselt das Nervensystem den MUP-Code? Anders gesagt: Wie können die gleichen Proteine fundamental unterschiedliche Informationen vermitteln?

Diese Frage untersuchten die Forscher mit Hilfe manipulierter MUP-Mischungen sowohl in Verhaltensversuchen als auch in neurophysiologischen Experimenten. Dabei konnten sie zeigen: Schon kleine Veränderungen im MUP-Cocktail verändern die „Identität“ der Mäuse. Beispielsweise wird countermarking bereits beobachtet, wenn dem eigenen Urin nur ein „fremdes“ MUP Protein hinzugefügt wird.

Im nächsten Schritt wollten die Aachener Wissenschaftler entschlüsseln, wie ein solch komplexes Verhalten auf der neuronalen Ebene ausgelöst werden kann. Hierzu untersuchten sie einzelne Nervenzellen im Vomeronasalen Organ und zeichneten deren Aktivität während der Stimulation auf. Die Doktoranden Tobias Ackels und Annika Cichy kamen zu einem verblüffenden Ergebnis bei der Suche nach den verantwortlichen Nervenzellen: von über 1000 untersuchten Neuronen im Vomeronasalen Organ reagierte nur ein Bruchteil (2,5 Prozent) der Nervenzellen empfindlich auf die MUPs. Während manche Neuronen sehr spezifisch auf nur ein bestimmtes MUP reagierten, zeigten andere Nervenzellen ein breites Antwortmuster auf verschiedene MUPs. Entgegen der bisherigen Annahme, dass die einzelnen Sensoren des Vomeronasalen Organs ausschließlich auf ganz spezifische Pheromone reagieren, erlauben die neuen Erkenntnisse nun Spekulationen über „multidimensionale“ Informationskodierung durch Pheromone - eine wichtige Erkenntnis für die weitere Erforschung der neuronalen Grundlage von Verhalten.

Ein Bruchteil der Nervenzellen im Vomeronasalen Organ ist somit in der Lage komplexe Verhaltensweisen zu steuern und den Mäusen über den Geruchssinn Informationen über „selbst“ und „fremd“ zu vermitteln. Hierzu nutzen die Nervenzellen im Vomeronasalen Organ eine kombinatorische Kodierungsstrategie um die Identität und Konzentration von MUPs in der Umwelt zu erkennen und zu entschlüsseln.

Für weiterführende Informationen steht Prof. Dr. Marc Spehr gerne zur Verfügung:

Prof. Dr. Marc Spehr
Abteilung Chemosensorik
Institut für Biologie II
2. Sammelbau Biologie
Worringerweg 3
52074 Aachen
Tel.: 0241 8020802
E-Mail: m.spehr@sensorik.rwth-aachen.de

Artikel in Cell: http://www.cell.com/cell/abstract/S0092-8674%2814%2900224-4

DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.cell.2014.02.025

Autoren: Dr. Martin Singheiser, Prof. Dr. Marc Spehr